Die Geschichte der Infamie ist eine Geschichte der Verfemten, derjenigen, die wegen ihres Verstoßes gegen soziale Normen aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Die Literatur gibt den Verfemten eine eigene Stimme, mit der sie sich gegen den Ehrverlust zur Wehr setzen können.
Ehrkonflikte spielen seit der Antike eine zentrale Rolle in der Geschichte der Kultur. Wer seine Ehre verliert, sieht seine gesamte Persönlichkeit in Frage gestellt, wird vor den Augen der anderen bloßgestellt und beschämt. Die Literatur bietet die Möglichkeit, dem drohenden Ehrverlust in Form eines Gegendiskurses durch eine souveräne Sprache zu begegnen. Der literarischen Sprache der Infamie geht es um eine Form der Selbstbehauptung, die sich zugleich mit spektakulären Rechtskonflikten überlagert, wie etwa die Geschichte des französischen Staatsfeinds Nr. 1, Jacques Mesrine, oder des Philosophen Louis Althusser zeigt. Prominente Beispiele für die literarische Sprache der Infamie sind der Vagantendichter François Villon, der Marquis de Sade, aber auch Autoren wie Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist, Franz Kafka und Jean Genet. Anhand einer Analyse ihrer Texte, die kritisch an die Arbeiten Michel Foucaults anschließt, lässt sich eine Geschichte der Infamie entfalten, die bis zur Literatur der Shoa, bis zu Hannah Arendt, Primo Levi und Imre Kertész reicht.
Inhalt
Einleitung ERSTER TEIL. FOUCAULT, DIE INFAMIE, DIE LITERATUR
1. Foucault, das Subjekt und die Wahrheit
2. Die Geschichte der Strafgesellschaft
3. Genealogie des Rechts I.
Die Wahrheit und die juristischen Formen
3.1 Ödipus und das Recht der Antike
3.2 Macht, Ehre und Schande
3.3 Eine kleine Geschichte des Rechts.
Probe – Untersuchung – Prüfung
3.4 Foucault, das Subjekt und das Recht
4. Genealogie des Rechts II. Überwachen und Strafen
4.1 Strafe und Disziplin
4.2 Strafe und Literatur
5. Genealogie des Rechts III.
Das Leben der infamen Menschen
6. Infames Schreiben. Der Fall Rivière
7. Das Recht der Literatur
7.1 Sade, Bataille und die Rechte der Literatur
7.2 Sade und die Schwelle der Modernität
7.3 Der souveräne Tausch. Georges Bataille
7.4 Von Gilles de Rais zum Marquis de Sade
7.5 Das Netzwerk der Libertinage. La Nouvelle Justine
7.6 Foucault, Sade und die Infamie
ZWEITER TEIL. UNERHÖRTE BEGEBENHEITEN.
NOVELLE UND INFAMIE BEI SCHILLER, KLEIST UND KAFKA
1. Verbrechen und Ehre
2. Ehrenstrafen
3. Infamie um 1800
4. Die Geburt des modernen Subjekts aus dem Geist der Strafe.
Friedrich Schillers Verbrecher aus Infamie
.1 Das Erhabene und das Gemeine
4.2 Schiller und das Recht
4.3 Anthropologie und Verbrechen. Verbrecher aus Infamie
4.4 Verbrechen und Ehrlosigkeit.
Die Geschichte des Christian Wolf
4.5 Schiller und die Infamie
5. Der Verbrecher aus verlorenem Recht.
Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas
5.1 Anmut und Würdelosigkeit. Über das Marionettentheater
5.2 Aporien des Rechts. Michael Kohlhaas
5.3 Kleist, das Subjekt und das Recht
6. Infame Strafen. Franz Kafka
6.1 Verfall der Ehre. Von Kleist zu Kafka
6.2 Kafka und die Erotik des Strafens
6.3 Der entrechtete Sohn I. Das Urteil
6.4 Der entrechtete Sohn II. Die Verwandlung
6.5 Das Rätsel des Masochismus.
Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz
6.6 Literatur und Folter. Ovtave Mirbeaus Le jardin des supplices
6.7 Eine Geschichte der Peinlichkeit. In der Strafkolonie
DRITTER TEIL. INFAME GESTÄNDNISSE.
AUTOBIOGRAPHIE UND EHRLOSIGKEIT
1. Walter Benjamin, die Kritik der Gewalt und
der Mythos des großen Verbrechers
2. Infamer Ruhm. Jean Genet
2.1 Falsche Infamie? Jean Genet und Michel Foucault
2.2 Blumen des Bösen.
Notre-Dame-Des-Fleurs und Miracle de la Rose
2.3 Infame Bekenntnisse. Journal du voleur
2.4 Verrat und Ehrlosigkeit
2.5 Genet und die poetische Sprache der Infamie
3. Der Verbrecher als Staatsfeind.
Jacques Mesrines Der Todestrieb
4. Der Mord als philosophische Kunst betrachtet.
Louis Althussers L’avenir dure longtemps
5. Infame Geburten.
Hannah Arendt und das Recht der Rechtlosen
5.1 Hannah Arendt und die verborgene Tradition des Paria
5.2 Infame Normalität. Eichmann in Jerusalem
5.3 Das Lager und die Moderne. Giorgio Agambens Homo sacer
5.4 Zeugenschaft des Infamen. Primo Levis Ist das ein Mensch?
5.5 Am anderen Ende der Peinlichkeit.
Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen
5.6 Nach dem Subjekt. Infamie und Scham
5.7 Nachspiel. Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel)
Schluss
Bibliographie
Personenregister
Achim Geisenhanslüke. Johann Wolfgang Goethe-Universität (Frankfurt am Main). Dr. phil., Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Philosophie, Germanistik und Romanistik an der Freien Universität Berlin und der Université de Paris VIII-Saint Denis. Promotion 1995 am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin über Foucault und die Literatur; Habilitation an der Universität Duisburg 2000 mit der Arbeit Der Buchstabe des Geistes. Postfigurationen der Allegorie von Bunyan zu Nietzsche. Von 2004 bis 2014 Professur für Deutsche Philologie (Neuere deutsche Literatur) an der Universität Regensburg. Seit 2014 Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Arbeitsschwerpunkte: Literaturtheorie und Ästhetik; Europäische Literatur vom 17. bis zum 21. Jahrhundert.